Kapitel 1

~ INSHA ~

 

»Ich hab Angst, Insha! Bitte, bitte mach, dass sie mich nicht holen

kommen …«

Ich spürte, wie sich eine kleine Hand vom Nachbarbett aus unter

meine Bettdecke schob und Hilfe suchend nach meiner tastete.

»Ich bin bei dir«, flüsterte ich und ergriff die kleinen, zarten

Finger. Sie waren kalt. Eiskalt. Und sie zitterten.

»Ist ja gut. Ganz ruhig«, murmelte ich leise und streichelte dabei

sanft das kleine Händchen.

»Aber sie kommen immer nachts«, wisperte der kleine Junge

hektisch zurück.

»Sch …«, versuchte ich, ihn zu beruhigen, »wenn du ganz still

bist, werden sie nicht auf dich aufmerksam.«

»Aber sie kommen immer nachts und du kehrst nie zurück«,

wiederholte Noah ängstlich. Seine Stimme bebte noch mehr, als sein ganzer Körper es tat. Der kleine Junge tat mir leid und wie so oft haderte ich mit mir, nicht doch meine Gabe einzusetzen, um ihm – oder auch den anderen Kindern – einfach die Angst zu nehmen. Doch das kam mir nicht richtig vor. Natürlich würde es ihnen daraufhin sofort besser gehen, aber Gefühle waren schließlich dazu da, gespürt zu werden und ich wollte keins der Kinder seiner Erfahrungen berauben. Nicht einmal dann, wenn es keine schönen waren, denn auch die gehörten leider zum Erwachsenwerden dazu. Gerade Angst war ein wichtiger Schutzmechanismus eines jeden menschlichen Körpers und ich hatte mir – neben den ermahnenden Sätzen, welche mir hier tagtäglich eingebläut wurden – selbst geschworen, meine Gabe niemals leichtfertig einzusetzen. Ja, man konnte es durchaus auch als meine eigene moralische Überzeugung bezeichnen, denn ich hielt es schlicht und ergreifend für falsch, den Geist anderer Menschen nach meinem persönlichen und damit subjektiven Ermessen zu manipulieren. Und solange die Kinder nicht direkt in Gefahr waren oder sie die White Mile entlanggebracht wurden, würde ich nicht eingreifen. Odarka, meine Zwillingsschwester, hatte seinerzeit dem Flurstück im Ostflügel diesen bedeutungsschweren Namen verpasst, von dem man zu sämtlichen Labor- und Versuchsräumen gelangte. Die Namensgebung hatte in Anlehnung an unseren Lieblingsfilm The Green Mile stattgefunden, den wir uns in regelmäßigen Abständen immer wieder zusammen anschauten. Wir waren uns einig, dass eine erschreckende Ähnlichkeit zwischen den beiden Fluren bestand: Die, die diesen Flur entlanggebracht wurden, mussten sterben. Nur, dass es bei uns keine Schwerverbrecher waren, sondern Kinder …

Außerdem wollte ich meine Mitmenschen lieber so behandeln,

wie alle anderen normalen Menschen das auch taten. Warum? Weil ich selbst so behandelt werden wollte. Ich wollte mit anderen ganz normal befreundet sein; wollte mit ihnen Spaß haben; mit ihnen lachen, weil ich sie oder sie mich witzig fanden; sie mit meiner Anwesenheit trösten, ihnen ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit vermitteln. Sie sollten sich bei mir wohlfühlen und mich mögen, weil ich ich war und nicht, weil ich die Fähigkeit hatte, sie das einfach glauben zu lassen oder weil sie am Ende sogar Angst vor mir hatten. Ich seufzte schwermütig, während Noah leise in sein Kissen weinte. Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen. Ich könnte seinem Leid direkt ein Ende setzen; könnte in ihm die schönsten Glücksgefühle hervorrufen, die er jemals erlebt hatte! Aber das wäre falsch. Schlimmer noch: Es wäre … Betrug. Und so ein Mensch wollte ich nicht sein! Und auch nicht werden! Niemals! Noah schluchzte auf und ich ertrug es mit dem Gedanken, dass es zwar jetzt schwer für ihn sein mochte, ich aber im Notfall immer für ihn da war. Für ihn sowie für alle anderen Kinder, auch wenn ich das eigentliche Unheil nicht abzuwenden vermochte.

»Insha?«, schniefte er.

»Du musst still sein, Noah. Dann passiert auch nichts«, flüsterte

ich eindringlich und kam mir dabei vor, als würde ich versuchen, ein scheues Pferd besänftigen zu wollen. Zur Bekräftigung meiner Worte, damit er diese endlich wahrnahm (schließlich war das, verdammt noch mal, gefährlich, was er hier tat!), drückte ich leicht seine Fingerchen.

Wie jede Nacht ging auch heute um Punkt null Uhr die Tür am

Ende des Schlafsaals auf und Unruhe machte sich breit. Manche Kinder hatten Albträume und schrien deshalb aus Leibeskräften. Manche aus bloßer Angst, dass sie geholt werden würden. Denn der kleine Junge hatte recht: Sie kamen immer nachts und du kehrtest nie zurück …

 

»Sie kommen immer nachts, immer nachts. Sie kommen immer

nachts und du kehrst nie zurück …«, wimmerte Noah unermüdlich vor sich hin und obwohl er sich um einen Flüsterton bemühte, war sein Gestammel lauter, als es hätte sein dürfen.

»Du bist zu laut«, zischte ich und drückte seine Hand energischer,

damit er mich endlich registrierte.

Durch den Lichtschein, der durch die Tür fiel, konnte ich sehen,

wie er mich aus verweinten Augen ansah.

»Mach dir keine Sorgen. Wenn du ganz still bist, übersehen sie

dich«, ermahnte ich ihn leise, und auch, wenn Noah das nicht zu glauben schien, konnte ich das guten Gewissens behaupten. Zugegeben, keins der Kinder war je davor gefeit, nicht doch geholt zu werden, aber solange man sich ganz ruhig verhielt, hatte man gute Chancen. Das Personal hier im WDP, einem Waisenhaus Schrägstrich Forschungseinrichtung, sortierte nämlich zuerst die Kinder aus, die die vermeintliche Nachtruhe der anderen störten.

Außerdem standen unsere Betten am Ende des Schlafsaals. Es

müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie an allen anderen Kindern vorbeiliefen, um ausgerechnet Noah zu holen.

»Sie holen dich. Sie holen dich und du kehrst nie zurück«,

wisperte der kleine Junge unaufhörlich. Mittlerweile war er in einen regelrechten Sing-Sang verfallen, der aus sie kommen immer nachts, sie holen dich und du kehrst nie zurück bestand.

Ich streichelte weiter sein Händchen und summte ein Schlaflied.

Ganz leise nur, damit es gerade so für ihn hörbar war. Ich durfte zwar laut sein – als ursprünglicher Träger der begehrten DNS hatte ich nichts zu befürchten und lediglich ein zusätzliches Bett im Schlafsaal der Kinder stehen, damit ich bis zur Auswahl bei ihnen sein konnte, um notfalls beruhigend eingreifen zu können –, doch die Gefahr, dass die Mitarbeiter dadurch auf Noah aufmerksam wurden, war zu hoch.

Schwere Stiefel polterten dumpf den Schlafsaal entlang, ließen ein

Bett nach dem anderen hinter sich und kamen näher und näher. Ich hielt die Luft an.

»Stehen bleiben! Stehen bleiben!«, dachte ich angestrengt,

während ich die beiden Wärter unauffällig beobachtete. Doch meine Macht, mich in die Köpfe anderer einschleichen zu können, blieb bei dem Personal hier wie gewohnt erfolglos.

Kurz bevor einer der beiden Wärter bedrohlich nahe an Noahs

Bettchen war und ich seine Hand bereits etwas fester umklammerte, um als letzte Möglichkeit den (zwar sowieso ausweglosen, aber immerhin!) Versuch zu starten, ihn im Falle eines Falles einfach festzuhalten, drehte der Wärter ab und blieb zwei Betten vorher stehen. Das Kind hatte einen unruhigen Schlaf und vermutlich durch sein unkontrolliertes Hin- und Herwälzen die Aufmerksamkeit des Mitarbeiters erregt. Ein kurzes Nicken zu seinem Kollegen und es war beschlossene Sache. Der Mann bückte sich und schulterte das Kind wie einen dicken Mehlsack, obwohl es sich nur um ein zartes Mädchen im Alter von höchstens zehn Jahren handelte.

Als das Mädchen durch die Berührung aus dem Schlaf gerissen

wurde, fing es bitterlich an zu weinen, strampelte, schrie, doch die Männer schritten unbarmherzig zur Tür hinaus und schlugen diese wie ein endgültiges Urteil hinter sich zu. Das Weinen des Mädchens war jetzt nur noch als leises Wimmern im Schlafsaal zu hören, bis es letztendlich ganz verstummt war. Nachdem die beiden Männer weg waren, spürte man deutlich die nachlassende Anspannung bei den Kindern, die noch wach gewesen waren und alles mitbekommen hatten. Die vorherrschende Angst wich zunehmender Erleichterung und auch ich erwischte mich dabei, wie ich beruhigt ausatmete, weil ich wenigstens den kleinen Noah in Sicherheit wusste. Zumindest vorerst. Denn eins war sicher: Für heute war es vorbei. Pro Nacht ein Kind. Das war die Regel. Und obwohl keins der Kinder wusste, was passierte, wenn man geholt wurde, war doch jedes froh, nicht der oder die Auserwählte gewesen zu sein. Das Personal bemühte sich zwar, das Märchen von der liebenden Familie, die einen mitnehmen wollte, aufrechtzuerhalten, doch mal im Ernst. Mitten in der Nacht? Immer? So blöd waren die Kinder auch nicht. Der einzige Grund, warum sie keine weiteren Fragen stellten oder trauerten, war einfach die Befürchtung, dadurch negativ aufzufallen und beim nächsten Mal selbst auf der Abschussliste zu stehen. Wobei diese Angst tatsächlich unbegründet war. Dr. Harris strafte keins der Kinder. Nie! Er wählte sie fast ausschließlich nach möglicher wissenschaftlicher Eignung aus. Nur wenn ein Kind nachts sehr auffällig war, indem es viel weinte, schrie oder durch einen unruhigen Schlaf hervorstach, waren die Wärter angehalten, dieses mitzunehmen. Harris wollte dem Kind dadurch weiteren Kummer ersparen, den es ja aufgrund seiner Auffälligkeit offensichtlich zu haben schien. Zudem versuchte er zu vermeiden, dass es durch sein Verhalten auch den anderen Angst einjagte. Das war ebenfalls der Grund, warum er die Kinder immer mitten in der Nacht holen ließ.

Alle waren dann in ihren Betten und da für sie ab 21 Uhr

Nachtruhe galt und ab dann das Verlassen des Schlafsaals verboten war, bekamen sie auch nicht mit, was weiter mit den Auserwählten geschah. Und es blieb ja auch immer noch die Möglichkeit, dass genau dieses Kind der erste langersehnte Durchbruch in der Forschung sein würde und danach auf ewig ein leichteres und besseres Leben hätte. Wir alle. Zumindest rechtfertigte Harris damit immer sein Tun, auch wenn ich da mittlerweile skeptisch war.

»Siehst du, ich hab dir doch gesagt, wenn du ganz still bist,

bemerken sie dich nicht«, sagte ich zu Noah, streichelte sanft über seinen Kopf und wartete, bis er nach einer Weile endlich eingeschlafen war. Dann schlich ich zur Tür hinaus, um nach dem Mädchen zu sehen.

 

Zügig eilte ich den schmalen Flur bis zum Ende entlang, wo sich

Harris’ Büro befand. Dann bog ich links ab. Mein Herz wurde schlagartig schwerer. Hier war sie: unsere White Mile. Kalt, karg und weiß. Meine Schritte wurden ungewollt langsamer. Immer, wenn ich diesen Teil des Flurs betrat, hatte ich das Gefühl, von sämtlichen negativen Emotionen regelrecht erdrückt zu werden. Schwermütig schritt ich voran, links und rechts vorbei an diversen Laborräumen. Die in die Jahre gekommenen Halogenröhren flackerten wie in einem alten Horrorfilm und verliehen dem Ganzen eine noch unheilvollere Atmosphäre. Selbst ohne das Wissen, was hinter diesen Türen geschah.

Der letzte Raum auf der rechten Seite. Da musste ich hin. Dort

wurden alle Experimente an den Kindern durchgeführt. Auch für diesen Raum hatte Odarka einen Namen. Sie nannte ihn Braindead, ebenfalls abgeleitet von einem ihrer Lieblingsfilme und gleichzeitig wieder erschreckend zutreffend. Ich holte tief Luft, dann betrat ich den Raum.

»Bitte, bitte, tu mir nichts«, weinte das kleine Mädchen

herzzerreißend, doch Cage, der Mitarbeiter, der sie ausgesucht hatte, kannte kein Erbarmen. Kannte er nie! Argwöhnisch beobachtete er mich, wie ich zu dem kleinen Mädchen ging, welches bereits auf einer Liege festgeschnallt war. Ich wusste, dass Cage meine Anwesenheit missbilligte. Er hatte noch nie verstanden, warum ich bei jedem Versuch zugegen sein wollte, oder auch, warum ich jede Nacht bei der Auswahl dabei war. Doch das spielte keine Rolle. Dr. Harris war mit meiner Bitte, den Kindern beistehen zu dürfen, einverstanden gewesen. Mehr noch: Er unterstützte mich sogar darin. Und nur das, was Harris sagte, zählte hier. Schließlich war er der leitende Arzt und zudem Oberbefehlshaber dieses ganzen Projekts.

Gleichzeitig fragte ich mich jedoch immer, ob Cage wirklich so

herzlos war oder ob er sich emotional einfach nur total abschottete, um seinen Job ausführen zu können. Ich hoffte Letzteres, befürchtete aber Ersteres. Ich seufzte innerlich. Wenn ich allein schon daran dachte, was dem armen Mädchen gleich bevorstand, wurde mir ganz anders. Doch was sollte ich tun? Wie ich bereits erwähnt hatte, wirkte meine Gabe bei dem Personal hier nicht und sich gegen Cage körperlich zur Wehr setzen? Viel. Spaß.

Er war eine zwanzig Jahre alte Version von Dolph Lundgren.

Blondes, etwas längeres Deckhaar, nach oben gegelt, dazu kurz rasierte Seiten, kalte, eisblaue Augen, stählerner Körper, markantes Gesicht und dazu fast hünenhafte zwei Meter groß. Die grüne camouflagefarbene Uniform, die er immer trug, rundete das Gesamtbild eines unerbittlichen Soldaten noch zusätzlich ab. Cage war durchaus die Art von Mensch, um die ich einen großen Bogen machen würde, wäre ich nicht gezwungen, hier leben zu müssen …

Sanft streichelte ich über die blonden Löckchen des Mädchens

und wollte gerade etwas sagen, da begann sie, zaghaft zu flüstern: »Mein Name ist Angel.« Ihre blauen Augen waren voller Tränen. »Kannst du mir bitte helfen?«

Ich schluckte schwer. Natürlich wusste ich, wie sie hieß. Ich

kannte den Namen jedes Kindes hier, was bei aktuell achtundzwanzig Kindern trotz hoher Fluktuation auch keine große Kunst war.

Nur versuchte ich, stets eine gewisse persönliche Distanz

zwischen ihnen und mir zu wahren, damit mich die ganze Sache emotional nicht vollständig killte. Ob das egoistisch war? Ja, war es. Und das tat mir auch unendlich leid! Doch ich konnte nicht anders. Ich schaffte es nicht anders! Sonst wurde ich mit dieser Situation einfach nicht fertig. Zu meinem Glück – wenn man es so nennen durfte – war mir das bis jetzt auch immer gelungen. Außer bei Noah … Dem kleinsten und jüngsten Kind hier, der bereits mit sechs Jahren ins Waisenhaus gebracht worden war, weil seine Eltern ihn nicht mehr haben wollten. Bei dem ich mich immer fragte, wenn ich durch seine dunkelbraunen Strubbelhaare strich und in seine großen, dunklen, unschuldigen Kulleraugen blickte, wie Eltern nur so etwas tun konnten: Ihr eigenes Kind weggeben und es vollkommen bewusst zu einem Waisen machen! Mir unverständlich. Andererseits war es Odarka und mir mit unserem Vater nicht anders ergangen. Na ja, vielleicht hatte Noah Glück und seine Eltern kamen doch noch irgendwann zur Besinnung und holten ihn wieder zurück nach Hause. Ich hoffte es jedenfalls für ihn und wünschte mir, dass es wenigstens für ihn – den Kleinsten! – eine andere Lösung geben könnte als das hier. Doch ich fürchtete, da brauchte ich mir keine falschen Hoffnungen zu machen.

Ich würde den Kindern so gerne helfen! Sofort, wenn ich es

könnte! Doch was sollte ich tun? Sollte ich Angel losschnallen und schauen, wie weit sie es schaffte? Dabei zusehen, wie sie wieder eingefangen und wieder festgeschnallt wurde? Gegebenenfalls mit einer zusätzlichen Strafe von Cage, weil sie den Versuch gewagt hatte, abzuhauen? Und selbst wenn sie es schaffte: Wo sollte sie hin? Raus in eine Welt voller Krieg, Terror, Attentate und Gewalt? Ein kleines, unschuldiges Mädchen? Allein die Vorstellung daran schnürte mir regelrecht die Kehle zu.

Das Amerika, wie es wohl mal gewesen war und wie ich es aus

Büchern und Filmen kannte, existierte schon seit langer Zeit nicht mehr. Und wer seinen sicheren Standort verließ, den konnte man nur als extrem lebensmüde bezeichnen.

Kleine Finger zupften an meinem Pulloverärmel. »Insha?«, sprach

mich das kleine Mädchen an und riss mich damit aus meinen Gedanken. Entschuldigend lächelte ich sie an und strich erneut über ihre Haare.

»Cage, können wir nicht –«, begann ich, doch ich wurde mit

einem rüden »NEIN!« unterbrochen.

»Aber wenn –«, versuchte ich es erneut, doch wieder schnitt Cage

mir das Wort ab.

»Ich sagte NEIN! Wenn du ein Problem hiermit hast, verpiss dich

einfach!«, raunzte er mich an. Wut stieg in mir hoch. Zu gerne hätte ich diesem Großkotz eine verpasst!

»Und wenn -«

 »Herrgott noch eins! Wenn du nicht endlich dein Maul hältst,

schmeiß ich dich höchstpersönlich raus! Und mit raus meine ich nicht nur raus aus diesem Zimmer, sondern ganz raus! Dann kannst du sehen, ob du hier in dem abgelegenen Waldstück von Minnesota noch einen anderen sicheren Standort findest! Obwohl …« Cage machte eine kurze Pause und musterte mich von oben bis unten. »Neben den ganzen Irren, die draußen rumlaufen, gibt es bestimmt auch den ein oder anderen, der Verwendung für eine hübsche Rothaarige hätte, wenn du verstehst, was ich dir damit sagen will …« Ein gehässiges Grinsen huschte über sein Gesicht.

»Tja … da hab ich ja Glück, dass du hier einfach null zu sagen

hast!«, schnappte ich zurück.

Cage legte arrogant den Kopf zur Seite und zog verächtlich eine

Augenbraue in die Höhe. »Das ist richtig. Aber wer sollte mich schon daran hindern?«, fragte er herausfordernd und spannte zur Bekräftigung seiner Worte die Muskeln an. Ich verdrehte die Augen. Was für ein Idiot! Aber auf so einen primitiven Schwachsinn ließ ich mich gar nicht erst ein. Wir lebten schließlich nicht mehr in der Steinzeit, wo es danach ging, wer sich am lautesten auf die Brust trommeln konnte.

Dr. Harris betrat das Zimmer. Sein Blick wechselte zwischen

Cage und mir. »Na? Habt ihr euch wieder lieb?«, scherzte er. Doch bevor ich irgendwas sagen konnte, ergriff Cage bereits das Wort.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr! Vielleicht solltest du sie

noch mal ins Gebet nehmen und ihr erneut erklären, warum das hier alles gemacht wird. Ich habe den Eindruck, je älter sie wird, desto unvernünftiger wird sie.«

Harris sah mich an und lächelte väterlich. »Unsere liebe,

herzensgute Insha, die immer erst nachdenkt, bevor sie etwas sagt, soll unvernünftig sein? Das halte ich für ein Gerücht.«

Cage schnaubte. »Wie du meinst, Harris. Ich stelle nur von Nacht

zu Nacht fest, dass ihr Verständnis für unsere Arbeit immer mehr schwindet.«

Ich sah Cage abschätzig an. So ganz war das nicht korrekt, denn

seine Worte implizierten ja, dass ich irgendwann mal Verständnis dafür gehabt haben musste, aber das konnte ich nicht bejahen. Zwischen Verständnis und keine andere Wahl haben, bestand immer noch ein himmelweiter Unterschied.

»Sie ist zu mitfühlend, zu nachgiebig, zu weich. Typisch Frau halt

eben«, setzte Cage nach.

»Du übertreibst, Cage«, sagte Harris. »Und sei froh, dass sie so ist.

Wäre sie wie ihre Schwester, hättest du bei ihr ebenfalls schon seit Jahren verschissen.«

 Cage kniff die Augen zusammen. »Lass es dir von mir …«
»Du darfst jetzt gehen, Cage«, schnitt Harris ihm das Wort ab.

»Wenn ich dich brauche, hole ich dich wieder.«

Cage schnaubte erneut. »Wie du möchtest, Harris!« Dann verließ

er ohne ein weiteres Wort den Versuchsraum, während Harris zwei Stühle zu sich zog, auf einem davon Platz nahm und auf den zweiten drauf klopfte.

»Komm, Insha, setz dich.«

Eigentlich war Harris ganz nett, deswegen tat ich wie geheißen,

obwohl der Versuchsraum selbst schon extremes Unbehagen in mir auslöste. Er war genauso trostlos wie der Flur, der hierherführte. Weiße, karge Wände, weiße Schränke und ein Stahlwaschbecken. Hinzu kam ein widerlicher Geruchs-Mischmasch aus Desinfektionsmittel und dem grauen gummiartigen PU-Beton-Fußboden, der hier verlegt war. Wahrlich kein Ort, an dem man sich freiwillig gerne aufhalten würde …

»Möchtest du mir sagen, was du auf dem Herzen hast?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. Es war ja nicht so, als würden wir dieses Gespräch das erste Mal führen und in der Vergangenheit hatte es auch nie etwas gebracht. Obwohl ich nicht geantwortet hatte, nickte Harris wissend.

»Weißt du, Insha, ich kann verstehen, dass dich das alles sehr

belastet. Und ich verstehe auch, dass es von Versuch zu Versuch, der scheinbar nicht gelingen will, immer unerträglicher wird. Ob du es glaubst oder nicht: Mir geht es genauso. Aber wir dürfen nicht aufgeben!« Er machte eine kurze Pause, dann sprach er mit bedrückter Stimme weiter. »Als ich gerade mal fünf Jahre alt war, kamen meine Eltern 2001 bei dem Anschlag auf das World Trade Center ums Leben. Ich wuchs bei meinen Großeltern auf. Verstehen konnte ich das Ganze damals noch nicht. Dafür war ich noch zu jung. Meine Mama und mein Papa waren einfach nicht mehr da und sie kamen auch nie wieder. Das war alles, was ich als Kind realisierte. Mit zunehmendem Alter kam jedoch auch das Interesse an dem Warum und Wieso. Da niemand auf diesen Irrsinn eine Antwort hatte, wuchs in mir immer mehr der Wunsch, solchen Attentätern irgendwann das Handwerk zu legen und andere Menschen vor solch einem Schicksal zu bewahren.«

Obwohl ich die Geschichte bereits mehrfach erzählt bekommen

hatte, unterbrach ich ihn nicht, sondern hörte geduldig zu. Solange er mit mir sprach, würde wenigstens keiner Hand an Angel legen. Außerdem vermutete ich, dass das Besprechen der damaligen Geschehnisse seine Art der Trauerbewältigung war, mit der er heute – neunundvierzig Jahre später – immer noch schwer zu kämpfen hatte. Während ich so dasaß und seinen Worten lauschte, fiel mir auf, wie müde und entkräftet Harris mittlerweile aussah. Die Fältchen um seine Augen waren mehr geworden, genau wie die grauen Haare an seinen Schläfen, die das sonst dunkle, aber immerhin noch volle Haar zierten. Von dem Bäuchlein, was mit der Zeit ebenfalls immer mehr zu werden schien, schwiegen wir aus Höflichkeitsgründen lieber. Trotzdem sah er mit seinen vierundfünfzig Jahren noch durchaus attraktiv aus.

»Als ich dann Anfang zwanzig war und die Terroranschläge 2016,

2017 und 2018 immer mehr zunahmen – generell die Gewalt unter den Menschen –, hatte ich es zuerst mit einer Ausbildung bei der Polizei versucht, doch schnell erkannte ich, dass ich mich für das Grobe weniger eignete, sondern meine Stärke mein Kopf war. Also brach ich ab und begann ein Medizinstudium. Ich wollte Menschen helfen, die krank oder verletzt waren. Im Laufe der Jahre entdeckte ich dann die Genforschung für mich – ein faszinierendes Gebiet – und spezialisierte mich darauf«, fuhr Harris fort.

Wieder einmal bemerkte ich, wie seine Augen bei der Erwähnung

der Genforschung zu leuchten begannen. Das schien wirklich seine Passion zu sein. Auch, wenn ich persönlich das eher gruselig fand.

»Nachdem sich die Lage in Amerika und sogar weltweit immer

weiter zuspitzte; es keine Obergrenze mehr für Attentate, Gewaltdelikte, generell für Kriminalität und Kriege zu geben schien und wir letztendlich dort endeten, wo wir heute sind: Dass kein Mensch mehr sorglos seinen sicheren Zufluchtsort verlassen kann, ohne Gefahr zu laufen, selbst Opfer zu werden, bekam ich ein Jobangebot von der amerikanischen Regierung. Als zweitbester Genforscher fühlte ich mich natürlich unglaublich geehrt. Das Angebot war in allem herausragend! Nicht nur, dass die Arbeit selbst wahnsinnig spannend und nach einer echten Herausforderung klang; ich bekam dadurch auch die Chance, endlich aktiv etwas gegen diesen kriminellen Irrsinn unternehmen und unser Land im Kampf dagegen unterstützen zu können.« Harris machte erneut eine kurze Pause und blickte dabei auf Angel. Dann seufzte er schwer. »Weißt du, Insha, niemals hätte ich gedacht, als ich den Job seinerzeit angenommen habe, dass wir irgendwann mal Versuche mit unschuldigen Kindern machen würden.« Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und rieb sich dabei die Augen. »Ihr wart damals noch gar nicht geboren, als dass ihr das wissen könntet, aber zu dieser Zeit haben wir ausschließlich Versuche mit Erwachsenen gemacht. Und diese Arbeit war eine ganz andere. Wir modifizierten ohne Ausnahme Elitesoldaten, um ihre Fähigkeiten genetisch noch weiter zu verbessern. Ja, ich weiß. Der Laie denkt, dass Genetik nur im ungeborenen Zustand, also bei Embryonen, verändert werden kann und es sonst nicht möglich sei. Aber er irrt … Die Regierung hat explizit diese Art der Forschung vorangetrieben, jedoch aus ethischen Gründen nie publik gemacht. Wir machten aus Menschen Scharfschützen, die ihr Ziel selbst über Kilometer hinweg nie verfehlten; modifizierten Marinesoldaten so, dass sie auch ohne Sauerstoffflaschen minutenlang unter Wasser bleiben konnten; machten aus Bodentruppen Kämpfer, die je nach Eignung schnell und wendig wie ein Gepard oder stark wie ein Bär waren und das alles ausschließlich auf freiwilliger Basis der Soldaten, weil sie dem Land bestmöglich dienen wollten und somit effektiver gegen Krieg und Terror vorgehen konnten. Sonst hätte ich den Job niemals angenommen. Doch dann kamt ihr dazu und alles wurde kompliziert.« Er seufzte erneut. »Die Vervielfältigung eurer speziellen Fähigkeiten war seitdem das Einzige, was die Regierung interessierte und wurde zur obersten Priorität erklärt. Gut, zugegeben. Auch wenn wir zuerst stolz auf unsere Erfolge waren, aber was ist schon ein Mann, der minutenlang unter Wasser bleiben kann oder stark wie ein Bär ist, gegen jemanden, der mit bloßer Willenskraft den Geist eines anderen manipulieren oder – in Odarkas Fall – den körperlichen Zustand eines anderen nach Belieben beeinflussen kann? So gut die modifizierten Elitesoldaten auch waren, gegen diese Skills sind sie einfach ein – Verzeihung – Scheißdreck. Mal abgesehen davon, dass es auch nicht genügend Soldaten gab, die das Potenzial für eine Modifikation hatten, da wir mit unserer Methode nur bereits bestehende Veranlagungen weiterentwickeln konnten. Und die, die sich dafür eigneten, waren zahlenmäßig leider unterlegen, um wahrhaft dem Terror entgegenwirken zu können. Aus diesem Grund setzte die Regierung alles auf euch. Stell dir vor, ein ganzes Heer aus Soldaten mit euren besonderen Fähigkeiten! Nie wieder Kriege, nie wieder Terror, nie wieder Anschläge! Dieses Heer könnte den langersehnten Frieden endlich wiederherstellen! Und wir müssten dafür noch nicht einmal Krieg führen! Diese kostbaren Soldaten, strategisch gut verteilt auf der ganzen Welt, könnten mit schierer Gedankenkraft jegliche Form von Gewalt im Keim ersticken und die mittlerweile verrohte Menschheit so wieder auf den rechten Weg zurückbringen. Leider stellte sich ziemlich bald heraus, dass eure DNS eine ganz andere Art ist. Ich meine, davon war auszugehen, bei euren besonderen Fähigkeiten. Nachdem das jedoch wissenschaftlich belegt wurde, wurdet ihr als EBMs deklariert. Also als evolutionär bedingte Mutationen. Ihr seid die Weiterentwicklung des stinknormalen Menschen, so wie ich einer bin. Quasi die Evolution des Homo Sapiens Sapiens. Das ist geradezu unglaublich und ich bin stolz darauf, live dabei sein und das miterleben zu können. Besser noch: damit arbeiten zu dürfen. Ich meine, wer bekommt in seinem Leben schon die Chance, Zeuge von Evolution zu werden? Normalerweise entwickelt sich so etwas über Hunderte von Jahren!« Harris’ Augen leuchteten wie die der Kinder an Weihnachten, wenn es Geschenke und Kekse gab. Er bemerkte meinen verhaltenen Blick und fasste sich wieder. Er wusste, dass ich es nicht mochte, wenn er über uns sprach, als wären wir eine Absonderlichkeit. Ein Ausstellungsstück, das ins Museum gehörte, damit jeder – der diesbezüglich ähnlich fanatisch war wie Harris – uns begutachten konnte wie die Knochen eines T-Rex.

»Wie dem auch sei. Wie bereits gesagt, hat die Regierung es seit

eurer Klassifizierung zur obersten Priorität gemacht, eure Gaben zu reproduzieren und sie auf andere Menschen zu übertragen. Nur leider gestaltet sich das Ganze schwieriger als angenommen. Was wir bislang wissen, ist, dass eure DNS eher einem Virus gleicht, der die Zellen der bisherigen Probanden befiel oder vielmehr befallen wollte und dann vom Immunsystem der Erwachsenen abgewehrt wurde, sodass keine Symbiose zustande kam. Alle Methoden, die wir versuchten, blieben wirkungslos und jetzt ist es so, dass Kinder unsere einzige Hoffnung auf ein friedliches Leben sind, da deren Immunsystem noch nicht so ausgereift ist und die Chancen für eine erfolgsversprechende Symbiose zwischen euren – ich nenn sie ja einfachheitshalber Viren – und der DNS der Kinder am realistischsten einzustufen ist.« Harris sah mich an, wartete auf eine Reaktion, doch ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Wusste ich nie. Denn wie bereits erwähnt, hatten wir dieses Gespräch schon mehrfach geführt, aber nur, weil ich den gleichen Kram in gewissen Abständen immer wieder neu erzählt bekam, hieß das noch lange nicht, dass ich das irgendwann guthieß. Im Gegenteil. Dieses steter Tropfen höhlt den Stein-Motto nervte mich eher. Gut, ein Stück weit konnte ich seine Beweggründe sogar nachvollziehen. Meiner Schwester und mir ging es schließlich nicht viel besser. Auch wir hatten keine Mutter mehr. Diese wurde uns bereits kurz nach unserer Geburt genommen, als ein Amokläufer seine Runde durch das Krankenhaus drehte, in dem wir geboren wurden und unsere Mutter einfach völlig grundlos erstach. Unser Vater war daraufhin so fix und fertig, dass er uns direkt in die Obhut des WDP gab, weswegen wir diesen ganzen Mist nun am Hals hatten, aber dennoch …

»Du und Odarka, ihr seid erst siebzehn«, ergriff Harris erneut das

Wort und unterbrach damit meine Gedanken. »Ich erwarte nicht, dass ihr Verständnis dafür habt, was hier gemacht wird und wie wichtig diese Aufgabe ist. Möglicherweise seid ihr einfach noch zu jung, um die Zusammenhänge und die Wichtigkeit der Sache zu begreifen. Aber ich alter Sack, mit meinen mittlerweile vierundfünfzig Jahren, habe im Laufe der Jahre viele schreckliche Dinge gesehen. Als ich das erste Mal mitbekam, wie sämtliche öffentliche Veranstaltungen mit Anti-Terror-Schutz in Form von Pollern, Barrieren und Metallsockeln gesichert werden mussten, um der Bevölkerung ein gefahrloses Ausgehvergnügen zu ermöglichen, hätten bei jedem die Alarmglocken schrillen müssen. Aber alle machten weiter wie bisher. Solange es einen selbst oder einen direkten Angehörigen nicht betraf, scherte sich keiner darum, in welche Richtung das Land driftete. Und heute, 2050, gibt es auf der ganzen Welt keinen einzigen sicheren Ort mehr, wo man sorglos leben kann. Die stetige Steigerung und unaufhörliche Verrohung der Menschheit, die Terroranschläge, Attentate, Messerstechereien und was weiß ich nicht noch alles haben mittlerweile ein nie zu erwartendes Höchstmaß erreicht. Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, in der man sorglos auf die Straße gehen konnte? In der es öffentliche Veranstaltungen gab? Konzerte unter freiem Himmel, für jeden zugänglich, der ein Ticket besaß? Geschäfte mit lebendigen Verkäufern, die Ware dem Kunden direkt verkauft haben, die er sich sogar selbst vor Ort aussuchen konnte, anstelle von Drohnen, die den im Internet bestellten Einkauf aus Sicherheitsgründen zu euch nach Hause liefern? Menschen, die ihre Arbeit in Firmen verrichtet haben, anstatt von zu Hause aus? Städte, die voller Leben und bunten Geschäften waren, in denen man gemütlich bummeln konnte, ohne dabei auf unzählige Soldaten zu treffen, die bis an die Zähne bewaffnet patrouillieren?«, echauffierte sich Harris. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Nein, das wisst ihr nicht. Das könnt ihr gar nicht wissen. Dazu seid ihr zu jung. Aber ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit und ich möchte diese Zeit wieder zurückhaben. Und wenn die einzige Möglichkeit ist, dieses Leben mit unserer aktuellen Methode zu erreichen, bin ich durchaus bereit, dieses Opfer zu bringen. In meinem Interesse und in dem eines jeden anderen friedliebenden Menschen!«

Ich schaute zu Angel, die mittlerweile ganz still geworden war

und ängstlich zwischen Harris und mir hin und her blickte. Eine Träne voll Hilflosigkeit und Wut lief mir die Wange hinunter.

»Hier«, sagte Harris und drückte mir die Tageszeitung in die

Hand, die neben ihm auf einem der Schränkchen gelegen hatte. »Wenn du der Meinung bist, dass es so weitergehen soll, versuch, dabei an die Opfer und deren Verbliebene zu denken …«

Ich schlug die Zeitung auf und blätterte sie auf die Schnelle

durch. Sie war voll mit Schreckensmeldungen.

»Weißt du, was früher in Zeitungen stand?«, fragte er. »Es gab

einen Sportteil, eine Seite mit Witzen, ein bisschen Politik, Rezepte und was den Pöbel sonst noch – oder auch nicht – interessierte. Solche Meldungen, aus denen mittlerweile die ganze Zeitung besteht, gab es da vielleicht alle paar Wochen mal, war dann der Headliner und es wurde wochenlang darüber berichtet, weil das so unfassbar war. Heute jagt eine Schlagzeile die nächste und das Schlimmste ist, es schockiert niemanden mehr, weil so was zur Normalität geworden ist.« Harris brummte missmutig, stand auf, ging zur Lautsprecheranlage, betätigte den Knopf und rief nach Cage.

Etwas verdutzt blickte ich ihn an. Nicht, dass ich erwartet hätte,

dass er den Versuch abbrach, aber trotzdem war der abrupte Übergang von seiner emotionalen Erzählung zurück zum Alltag doch etwas ernüchternd. Harris fing meinen Blick auf, kam wieder zu mir und legte mir seine Hand auf die Schulter. Der gerade noch fest entschlossene Gesichtsausdruck wurde weich und bitter.

»Auch wenn du mir nicht glaubst, Insha, aber es tut mir wirklich

leid, was mit diesen Kindern geschieht. So sehr ich die alten Zeiten zurücksehne, wünschte ich, es gäbe eine andere Möglichkeit. Doch die gibt es nicht. Und wenn es dir irgendwie hilft oder dein Gewissen beruhigt: Weder du noch ich haben eine Wahl. Die Regierung bestimmt, was wie getan wird. Nicht du oder ich. Ich bin nur ausführende Kraft und wenn ich es nicht tue, sitzt hier morgen ein anderer und wer weiß, was dann mit den Kindern geschieht. Oder mit dir und Odarka. Eventuell werden dann anstatt eines Versuchs mehrere täglich gemacht, damit die Regierung schneller die erhofften Resultate erlangt und ich denke nicht, dass du das möchtest. Ich meine, aus meiner Sicht steht es euch jederzeit frei zu gehen. Ich zwinge euch nicht, hierzubleiben und werde euch auch nicht aufhalten. Ich weiß diesbezüglich nur zwei Dinge und da du selbst ein kluges Mädchen bist, bin ich mir sicher, dass du sie ebenfalls weißt: Selbst mit euren Fähigkeiten ist es außerhalb des Instituts extrem gefährlich und solltet ihr es tatsächlich schaffen, woanders einen Unterschlupf zu finden, ohne vorher draufgegangen zu sein, wird die Regierung euch so schnell wieder einkassieren, wie nicht mal ein Wimpernschlag dauert. Und wer weiß, was dann mit euch geschieht und ob ihr dann noch die Freiheiten habt, die ihr aktuell genießen dürft.«

Ich schnaubte. Mir war durchaus bewusst, was Harris da sagte.

Immerhin bekamen wir tagtäglich erzählt, wie wichtig wir – oder speziell unsere Fähigkeiten – für die Rückerlangung des Weltfriedens waren. Aber diese Art von goldenem Käfig, einerseits, angeblich Freiheiten zu haben (was auch immer das bedeutete) und andererseits, sich komplett fremdbestimmen lassen zu müssen, passten in meinen Augen nicht zusammen und ärgerten mich maßlos, auch wenn ich im Gegensatz zu meiner Schwester nicht annähernd so ein überschäumendes Temperament hatte und es daher nicht so zeigen konnte.

Cage betrat den Raum und meldete sich standesgemäß bei Harris.

»Ja, Sir?«, sagte er förmlich.

»Mach das Kind fertig«, wies er ihn an. »Wir sprechen uns später

nach Versuchsende.« Dann verließ er das Zimmer.

Cage sah mich an. »Alles klar bei dir?«, fragte er, ohne dass ich

eine Gefühlsregung in seiner Stimme erkennen konnte. Als ich nichts erwiderte, ergriff er erneut das Wort. »Nimm dir nicht immer alles so zu Herzen, Insha. Du musst härter werden, wenn du in dieser Welt bestehen willst.«

Ich überlegte, ob er mich jetzt verarschen wollte. Schließlich hatte

ich die Ansage von Harris doch auf sein Geheiß bekommen. Ich beschloss, ihn zu ignorieren und widmete mich stattdessen lieber dem kleinen Mädchen.

»Du hilfst mir nicht, stimmt’s?«, sagte sie kleinlaut, als ich meinen

Stuhl neben ihre Liege rückte. Ich ergriff ihre kleine Hand, streichelte sie sanft und suchte nach den geeigneten Worten. Als ich sie so ansah, die ganze Angst und Verzweiflung in ihren Augen erkannte, fühlte ich mich, als würde mein Herz in tausend winzig kleine Teilchen zerbrechen. Der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, schien größer und größer zu werden. Ich schluckte laut und auch wenn ich wusste, dass das die Sache ganz und gar nicht besser machte, wollte ich sie nicht anlügen und ihr Hoffnung schenken, wo es keine gab …

»Es tut mir unendlich leid, dass ich dir nicht helfen kann. Ich

wünschte, es wäre anders. Alles wäre anders. Bitte vergib mir«, brachte ich hervor, bevor meine Stimme versagte. Die Worte kamen nur dünn über meine Lippen und ich musste eine kurze Pause machen, bevor ich weitersprechen konnte. Ich räusperte mich und blinzelte eine Träne weg. »Aber ich verspreche dir, ich mach, dass es nicht wehtut, okay?«, sagte ich und bemühte mich, die Fassung zu wahren.

Eine dicke Träne kullerte Angels Wange hinunter, dann nickte sie

ergeben. Trotz ihrer jungen Jahre offenbar vollkommen in dem Bewusstsein, dass es keinen anderen Ausweg für sie geben würde. Gott! Es zerriss mich innerlich jedes Mal, wenn ich das mit ansehen musste! Diese armen Kinder, die nichts hatten. Keine Familie; niemanden, der sie liebte; niemanden, der ihnen half und vor allem niemanden, der sie beschützte. Alleingelassen, auf sich selbst gestellt und hilflos.

Cage stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Meine Fresse! Jeden

Abend das gleiche Theater! Es tut mir so leid, es tut mir so leid. Bla, bla, bla! Das hilft hier keinem weiter! Wenn dich das immer alles so mitnimmt, bleib in Zukunft gefälligst in deinem Zimmer, klar!? Und jetzt geh mal hier weg! Du störst!«, kommandierte Cage und stieß mich beinahe von meinem Stuhl, woraufhin ich ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Du bist so ein Mistkerl!«, giftete ich ihn an, doch das störte ihn –

Cage-getreu – herzlich wenig. Grrrr! Cage war so ein dummer, arroganter Arsch! Unbarmherzig! Emotionslos! Gleichgültig! Aber da wären wir wieder bei dem Thema von vorhin: Das musste er wohl auch sein. Sonst könnte er diesen Job niemals ausführen. Dennoch verachtete ich seine Abgestumpftheit in Bezug auf die Kinder. Wie konnte man nur so sein? Da wir jedoch beide hier lebten und ich – wie mir eben von Harris wieder einmal deutlich gemacht wurde – keine Alternative hatte, musste ich mich wohl oder übel mit ihm arrangieren. So ätzend das auch war …

»Schau nicht so verbissen. Du weißt, es ist für einen guten

Zweck«, sagte Cage und wiederholte damit beinahe mechanisch die Worte, an die auch Odarka und ich permanent erinnert wurden.

»Der gute alte Zweck mal wieder«, schnaubte ich abfällig und

dachte dabei an das alte Sprichwort Der Zweck heiligt die Mittel, mit dem man seit jeher versuchte, Unrechtes Recht aussehen zu lassen.

Cage fixierte Angel weiter. Das nackte Metallgestell mit den

hellbraunen Lederfesseln für Hände, Füße, Kopf und Rumpf sowie das weiße, sterile Laken, auf dem sie wie Schlachtvieh festgezurrt wurde, erinnerten mehr an eine Psychiatrie und vollendeten in Kombination mit diesem trostlosen Raum und dem ekelhaften Geruch diese durchaus furchteinflößende Atmosphäre. Kein Wunder, dass Angel zitterte und ihre Augen panisch umherhuschten.

Ich spürte, wie das kleine Mädchen immer mehr Angst bekam

und begann nun mit meinem Part: der Beeinflussung ihres Geistes; dem Nehmen ihrer Angst. Denn im Gegensatz zu Noah vorhin stand ihr nun tatsächlich etwas Schlimmes bevor, was in meinen Augen die Nutzung meiner Gabe rechtfertigte. Und auch, wenn es in Anbetracht der Gesamtsituation nur ein Tropfen auf den heißen Stein war, wollte ich nicht tatenlos herumstehen und ihr wenigstens alles so angenehm wie möglich machen, wenn ich es schon nicht abwenden konnte.

Cage beobachtete mich mit hochgezogenen Brauen, gefolgt von

einem Kopfschütteln und fuhr unbeirrt fort. Er holte aus einem der Hängeschränke eine Spritze, einen Tupfer, etwas Desinfektionsmittel und einen Schlauch, um Angels Venen zu stauen. Aus einem Kühlbehälter nahm er ein kleines Glasfläschchen, in dem sich das neu modifizierte Mittel befand, welches er mit der Spritze aufzog.

Angel schielte zu der Spritze. Ihre Pupillen weiteten sich panisch

und sie begann, hektisch zu schreien: »Hilf mir, Insha! Bitte hilf mir doch!«

Ich musste erneut schwer schlucken. Meine Kehle war

mittlerweile wie zugeschnürt. Sie hatte ja keine Ahnung, wie gerne ich würde! Wie gerne ich sie losbinden und wegbringen würde! Dorthin, wo sie ein normales Kind sein konnte und geliebt wurde; und kein beschissenes Versuchsobjekt war! Nur leider hatten wir alle eine Sache gemeinsam: Wir waren hier gefangen! Und es gab keinen Ausweg …

Behutsam strich ich über ihre vor Angstschweiß leicht glänzende

Stirn und konzentrierte mich auf ihre Furcht und ihren Schmerz, der bislang zwar nur als Einbildung in ihrem Kopf vorhanden war, aber auch das sollte sie nicht ertragen müssen. Wirklich weh tat die Behandlung tatsächlich nicht – eben der Einstich der Spritze. Doch was das Gehirn einem alles vorgaukeln konnte, war unbeschreiblich.

Ich stellte mir vor, wie ich beides ausschaltete – wie einen

Lichtschalter – und hörte Angel erleichtert aufseufzen. Zusätzlich setzte ich ein paar Endorphine in ihr frei, worauf sie glücklich die Augen schloss und ein süßes wohliges Grunzen von sich gab.

»Findest du das fair?«, fragte Odarka eisern, die plötzlich hinter

mir stand.

»Hey, Sis«, begrüßte ich sie und warf ihr ein flüchtiges Lächeln zu,

bevor ich wieder zu dem kleinen Mädchen blickte, welches allem Anschein nach kurz vorm Einschlafen war.

»Ich weiß nicht, ob das fair ist. Vermutlich eher nicht. Aber lieber

so, als sie unnötig leiden zu lassen«, entgegnete ich und unterdrückte einen Seufzer.

»Bekommt sie dich oder mich?«, fragte meine Schwester. Damit

meinte sie unsere DNS, welche die Probanden immer in leicht veränderter Form in den Blutkreislauf gespritzt bekamen in der Hoffnung, unsere Kräfte irgendwann auch auf andere übertragen zu können. Wie Harris bereits erklärt hatte, war unsere DNS nämlich nicht vergleichbar mit der normaler Menschen, welche für gewöhnlich unter einem Heidenaufwand mit den Genen des Versuchsobjekts vereint werden musste. Unsere DNS war wie ein Virus, den man einfach nur in den Blutkreislauf der betreffenden Person einbringen musste und der sich dann selbstständig mit den Zellen des Wirts zu verbinden begann. Oder sie befiel, wie Dr. Harris es weniger schmeichelhaft ausdrückte. Aber immerhin beinahe schmerzlos für die Kinder, wenn man von der Einstichstelle der Spritze und den leider bis dato sehr unschönen Folgen absah.

»Ich hab’s nicht genau mitbekommen. Ich war mit Angel

beschäftigt, aber ich glaube, sie bekommt dich«, antwortete ich ihr.

Cage nickte kurz bestätigend, dann band er Angels Arm ab,

klopfte auf den Venen herum, bis diese unter der Hautoberfläche hervortraten und spritzte etwas von Odarkas modifiziertem Hirnwasser hinein.

Das kleine Mädchen zuckte kurz zusammen, als die Spritze

einstach, aber das durfte nur ein kleiner Schreck gewesen sein. Wehtun konnte es nach meiner getanen Arbeit zumindest nicht mehr.

Odarkas Augen verdunkelten sich. »Sag ihm, er soll gefälligst

sparsam damit umgehen!«, blaffte sie unfreundlich und ging. Cage ignorierte ihren Kommentar genauso wie Odarka ihn ignoriert hatte und fuhr unbeeindruckt fort. Ich sah meiner Schwester mitleidig hinterher. Einerseits amüsierte es mich ein bisschen, wie sie Cage oftmals so offenkundig missachtete. Er hatte es verdient. Keine Frage! Kannte man jedoch den Grund, warum sie gerade bei dem Thema DNS beziehungsweise Hirnwasser so reagierte, war das Ganze gar nicht mehr lustig. Odarka hasste die Prozedur, wie das Hirnwasser – quasi die Quelle unserer besonderen DNS (auch so ein Unterschied im Gegensatz zu normalen Menschen, bei denen die DNS in jeder Zelle des Körpers enthalten war) – entnommen wurde. Sie war – höflich ausgedrückt – alles andere als angenehm und Odarka hatte meistens noch zwei bis drei Tage danach mit den Nebenwirkungen zu kämpfen. Von daher konnte ich ihre Reaktion nur allzu gut verstehen …

»Sie ist fertig«, sagte Cage, räumte das Spritzbesteck beiseite und

wandte sich zum Gehen.

»Willst du die Fesseln nicht losmachen?«, fragte ich ihn.

Cage zog genervt die Augenbrauen nach oben. Ich wusste, dass

ich jedes Mal die gleiche Frage stellte und ich wusste auch, dass er meine Bitte jedes Mal ausschlug, aber ich tat mich einfach schwer damit, ein kleines harmloses Kind wie einen Schwerverbrecher fixiert zu sehen.

»Wir warten wie jedes Mal ab, was sich tut und danach können

wir vielleicht darüber reden«, bestimmte er und verließ den Behandlungsraum. Natürlich hätte ich die Fesseln einfach selbst lösen können, aber in gewisser Weise hatte Cage leider recht, so ungern ich das auch zugab. Denn sollte der Versuch wieder misslingen und Angel nicht mehr fixiert sein, würde ich damit eine Menge Menschen in Gefahr bringen. Und das wollte ich natürlich auch nicht … So blieb mir nur, abzuwarten und zu hoffen, dass diesmal alles gut gegangen war.

Ich blieb bei Angel und streichelte immer wieder über ihren

Kopf. Dabei flüsterte ich ihr beruhigende Worte ins Ohr, wobei ich das wohl eher für mich selbst tat, als dass es Angel etwas nutzte. Sie schien längst eingenickt zu sein, aber ich fühlte mich damit besser. Herzlicher. Mitfühlender. Menschlicher. Und auch wenn ich genau wusste, dass es eindeutig so war, kam mir Angel damit nicht ganz so versuchsobjektmäßig vor. Mittlerweile war ich hundemüde, doch ich wollte – wie jede Nacht – unbedingt den Ausgang des Versuchs mitbekommen …

 

 Nach ungefähr einer halben Stunde begann sie, sich wieder zu

regen. Ihre Augen zuckten unter den geschlossenen Lidern, bevor sie mich leicht verschlafen anblinzelte.

»Hey«, sagte ich sanft und strich ihr eine blonde Locke aus der

Stirn.

Angel lächelte leicht. Ob es dieses Mal geklappt hatte? Ob der

Doktor endlich die richtige Modifizierung unserer DNS gefunden hatte, um die Kinder – so wie er es nannte – besser zu machen? Unsicher beobachtete ich sie. Ich betete um Angels Willen, dass es so war!

»Wie geht es dir?«, fragte ich mitfühlend. Angel antwortete nicht,

sondern sah sich nur verwirrt im Behandlungszimmer um, was jedoch nichts heißen musste. Viele der Kinder waren erst mal zerstreut, wenn ich an ihrem Geist herumgespielt hatte.

»Angel?«, hakte ich nach, da ihr Blick stumm an mir hängen blieb

und sie sich nicht weiter rührte. »Alles okay bei dir?«, fügte ich hinzu und strich ihr erneut die blonde Locke aus der Stirn, die ihr wieder ins Gesicht gefallen war.

Angel bewegte den Kopf ruckartig zur Seite. Sie schien erst jetzt

zu registrieren, dass sie festgebunden war und begann, an den Fesseln zu zerren. Tonlos. Die Augen vor Schreck weit aufgerissen.

»Hey, kleine Maus. Ist doch alles in Ordnung. Wir machen dich

frei«, versprach ich und rief nach Cage. Gleichzeitig löste ich schon einmal den Lederriemen um ihren Kopf, als sich ihr Gesicht plötzlich zu einer verzerrten Grimasse verzog. Wie ein tollwütiger Hund zeigte sie mir die Zähne und stieß ein animalisches Knurren aus, bevor sie mir mit ganzer Kraft in die Hand biss.

»Autsch!«, fiepte ich und zog meine Hand schnell wieder zurück.

Blut sammelte sich in den Zahnabdrücken und ich sah entsetzt zu Angel.

»Du hast mich gebissen«, kommentierte ich das Offensichtliche

und schaute sie dabei fassungslos an. Das kleine blonde Mädchen, das bis vor Kurzem keiner Fliege etwas zuleide getan hätte, hatte mich blutig gebissen! Blutig! Gebissen! Nicht, dass ich so etwas noch nie bei Cage mitbekommen hätte, doch mir selbst war so etwas noch nie passiert. Und schon gar nicht hätte ich bei solch einem kleinen, eigentlich liebenswerten Mädchen damit gerechnet.

Klack, klack, klack!

Ich bekam Gänsehaut. Es war das abscheuliche Geräusch

aufeinanderschlagender Zähne. Angels Zähne, wie sie wild durch die Luft schnappte.

»Du hast gerufen? Hat es diesmal geklappt?«, fragte Cage beinahe

hoffnungsvoll, als er in das Behandlungszimmer stürmte. Wohl der einzige Grund, warum ich ihn nicht vollends verachtete. Denn das hier zeigte, dass er doch noch so etwas wie ein Herz besaß. Wenn auch gut verborgen … Schnell schob ich meine Hand unter die Liege, damit er die Bisswunde nicht sehen konnte, doch ein Blick auf Angel genügte.

»Shit!«, fluchte er. Dann sah er zu mir. »Sei froh, dass wir das

Ding da nicht direkt losgeschnallt haben. Sonst hättest du die kleine Bestie jetzt wie einen Vampir am Hals hängen«, kommentierte er trocken und schritt auf sie zu.

»Sprich nicht so über sie. Sie kann schließlich nichts dafür«, rügte

ich ihn und ärgerte mich zugleich schon wieder über seine Gleichgültigkeit.

Cage zuckte belanglos mit den Schultern. »Wie du meinst.« Mit

diesen Worten packte er Angel im Genick, die daraufhin merkwürdig schwere Atemgeräusche von sich gab, bevor sie sich in beängstigenden Stöhnlauten verlor, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.

»Ach, halt’s Maul!«, herrschte Cage sie an und schlug ihr mit der

noch freien Hand ins Gesicht.

»Nicht!«, rief ich, doch Angel hatte blitzartig den Kopf auf eine

ungesunde Weise verdreht und biss ihm wie ein ausgehungertes Tier in die Finger. Blut lief seine Hand hinunter, während Angel sich gierig die Lippen leckte. Mein Herz begann, schneller zu schlagen.

Verdammt! Drei Dinge, die nicht geschehen sollten, waren

passiert:

Angel war geschlagen worden – unseretwegen.

Cage war gebissen worden – unseretwegen.

Und das Schlimmste: Angel war zu einem Fleischfresser mutiert –

ebenfalls unseretwegen.

Nur Cage sah das leider nicht so und ich machte mir ernsthafte

Sorgen, ob sich dieser Zwischenfall auf seine hoffentliche Humanität beim späteren Entsorgen auswirkte.

»Du dämliches Mistvieh!«, herrschte er das kleine Mädchen an,

riss ihre Fesseln auf und packte sie wie einen leblosen Aktenkoffer unter den Arm, völlig unbeeindruckt von ihrem Gestrampel und Gezeter. Dann verließ er mit ihr den Raum. Ich hörte Angel noch schreien und Cages Flüchen nach zu urteilen, ließ sie nichts unversucht, ihm zu entkommen. Doch Cage hatte seinen Namen nicht umsonst. Beruhigungsmittel für die wesensveränderten Kinder? Hielt er für Verschwendung. Er regelte lieber alles mit Muskelkraft. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, er machte sich einen Spaß aus der ganzen Sache oder sah es als zusätzliches Workout an.

Ich vernahm, wie Angel in weiter Entfernung einen spitzen Schrei

ausstieß. Kurz schöpfte ich Hoffnung, dass sie doch wieder bei Sinnen war und Cage sie freiließ, doch mein Verstand hatte mich schneller eingeholt als mir lieb war.

Sie wäre die erste, die es schaffen würde.

Niedergeschlagen blieb ich auf meinem Stuhl sitzen. Ich musste

nicht folgen, um zu wissen, was jetzt geschah. Und ich wusste ebenfalls, dass ich nichts dagegen tun konnte. Angel wurde entsorgt. Wie alle anderen missglückten Experimente zuvor auch. Beseitigt wie ein Haufen Müll. Als würde es sich nicht mehr um ein Menschenleben handeln. Ich fand diese Sichtweise einfach nur widerlich und furchtbar. Doch genau das war es, was Cage zusätzlich mit dem von ihm verwendeten Begriff Entsorgung implizieren wollte. Für Cage waren die wesensveränderten Kinder keine Menschen mehr. Das hatte er mehr als einmal deutlich gemacht. Ganz rational betrachtet, hatte er leider sogar recht. Die Kinder waren nach den Versuchen nicht mehr wiederzuerkennen. Doch wessen Schuld war das denn?! Ich konnte sehr schlecht damit umgehen. Jede Nacht war ich aufs Neue hin- und hergerissen. Wollte helfen, aber wie? Quälende Fragen und Gewissensbisse malträtierten mein Gehirn. Einerseits kam ich mir schrecklich dabei vor, zu wissen, dass die besagten Kinder entsorgt wurden; dass man sie umbrachte, weil ihnen Schaden zugefügt wurde, um ein angeblich edleres Ziel zu verfolgen. Andererseits war mir durchaus bewusst, dass sie auf diese Weise auch kein Leben mehr führen könnten und es so – in Anbetracht der Umstände – besser für sie war. Doch wie edel musste ein Ziel sein, um so etwas rechtfertigen zu können?

War die Ausrottung von Krieg, Terror, Mord und Gewalt genug?

War Weltfrieden genug?

Ließ sich so etwas überhaupt irgendwie rechtfertigen?

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, schloss die Augen und lehnte

mich gegen die Rückenlehne des Stuhls. Eine heiße Träne bahnte sich den Weg durch meine geschlossenen Lider und lief mir in einem kleinen Rinnsal die Wange hinunter.

»Du solltest das desinfizieren«, erklang die mahnende Stimme

meiner Schwester hinter mir.

Erschrocken öffnete ich die Augen. Ich hatte sie gar nicht

kommen hören. Ich drehte mich zu ihr um und sah in ihr gütiges, aber gleichzeitig auch strenges Gesicht. »Du hast recht«, pflichtete ich ihr bei und betrachtete meine Bisswunde genauer. Sie war gerötet und leicht geschwollen, machte aber nicht den Anschein, als würde sie Probleme bereiten. Dennoch konnte es nicht schaden, sie zu säubern.

»Dann tu es auch«, forderte Odarka mich auf.

Ich lächelte. Meine Schwester. Vielleicht nicht immer den

freundlichsten Ton treffend, dafür aber fürsorglich und herzensgut. Allein schon die Tatsache, dass sie sich jede Nacht mit mir um die Ohren schlug, nur um zu sehen, ob es mir gut ging, sagte einiges über ihren wundervollen Charakter aus. Sie selbst mochte bei den Versuchen zwar nicht zugegen sein – so taff sie sonst war, so sensibel war sie auch –, aber sie wartete immer auf mich, bis ich ihr in unser Zimmer folgte.

Ich stand auf, ging zu einem der Schränke und holte ein

Desinfektionsmittel hervor. Vorsichtig tupfte ich etwas davon auf die Wunde. Meine Güte. Angel hatte schon ganz schön zugebissen. Beim Anblick der Wunde wurde mein Herz noch schwerer. Angel …

Ob der Doktor es irgendwann schaffte, unsere DNS so zu

manipulieren, dass sie ganz normale Menschen blieben? Nur eben mit einer zusätzlichen Fähigkeit?

»Denkst du wieder über die Versuche nach?«, fragte Odarka und

legte mitfühlend ihre Hand auf meine Schulter.

Ich nickte leicht. Obwohl ich mich bemühte, mir meine

Enttäuschung über den erneuten Fehlversuch nicht anmerken zu lassen, las Odarka in mir wie in einem offenen Buch. Wem wollte ich auch etwas vormachen? Sie war mein Zwilling! Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass sie meine Gedanken schon vor mir wusste! Odarka nahm mich in den Arm.

»Irgendwann wird Harris es schaffen. Ich bin mir ganz sicher«,

sagte sie aufmunternd und drückte mich zur Bekräftigung ihrer Worte noch einmal fester an sich.

»Ich hoffe es von ganzem Herzen«, antwortete ich und erwiderte

ihre Umarmung.

 

Letzte Aktualisierung: 28.02.2020